Wie ich zur Homöopathie kam

Psychiatrie und Homöopathie, oder: wie ich zur Homöopathie kam

Nachwort des Buches von Andrea Brüdern „Seelisch gesund werden durch Homöopathie„, Kösel Verlag 2000

Eigentlich hätte ich ja gute Chancen gehabt, daß etwas „Anständiges“ aus mir geworden wäre – Elektrotechniker zum Beispiel, wie mein Vater – aber nein, irgendwie begann sich mehr und mehr die Idee in meinem Hirn festzusetzen, ich müßte Psychotherapeut werden. Damals, ich zählte zwischen 14 und 16 Lenzen, stellte ich mir das natürlich noch ganz anders vor. „Eigentlich höre ich gerne Menschen zu, wenn sie Geschichten erzählen, das wäre doch eine feine Sache, wenn ich dann damit auch noch Geld verdienen könnte“, so ungefähr habe ich damals wohl gedacht. Zu dieser Zeit verschwand auch der Karl May endgültig aus dem Bücherregal und mehr und mehr gute Fischertaschenbücher mit den diversen Freud-Titeln breiteten sich aus.

Schließlich, so um die Zeit des Abitures, war es dann klar: ich würde Psychologie studieren. Nachdem ich einige Psychologievorlesungen besucht hatte, kam mir zunehmend der Verdacht, daß ich an der Universität vielleicht interessante Interpretationsmöglichkeiten des Verhaltens von Ratten lernen würde. Wie ich aber mit diesem Wissen auch nur einem Menschen bei seinen Problemen helfen sollte, war mir vollkommen schleierhaft. München war damals fest in der Hand der sogenannten „Behaviouristen“.

Ich dachte mir: „Naja, dann probiere ich es halt einmal mit dem Medizinstudium, das hat wenigstens etwas mit richtig lebendigen Menschen zu tun“. Jahre später besuchte ich den Psychosomatik-Kurs, und das hörte sich dann schon ein bißchen so an wie das, weswegen ich ursprünglich das ganze Studium angefangen hatte. Das „Praktische Jahr“, einige Praktika und so manche Nachtwache verbrachte ich dann in der Psychiatrischen Universitätsklinik.

Als ich das dritte Staatsexamen hinter mich gebracht hatte, wurden glücklicherweise einige Stellen frei. So kam es, daß ich am ersten Dezember 1987 als frisch gebackener Assistenzarzt meine Arbeit als Psychiater auf der geschlossenen Männerstation der Universitätsklinik begann. Wenige Monate später wurde auch mein Freund und Studienkollege Klaus Hock dort eingestellt. Er begann sich auf die Homöopathie zu stürzen – ich vertiefte mich, soweit es die Klinikarbeit zuließ, in die Zusatzausbildung für Psychotherapie. So gemütlich, wie ich mir das einmal vorgestellt hatte, wurde es natürlich nicht. Ich mußte mir ja auch ausgerechnet Frank Farelly als einen meiner wichtigsten Lehrer aussuchen, bei dem man manchmal den Eindruck haben kann, lieber erzählt er den Patienten etwas, als daß er sich langatmig erzählen läßt, weil er die Probleme der Patienten sowieso besser versteht als die Patienten selber. Dafür wird’s aber auch keine Sekunde langweilig in seinen Therapien.

Bis dahin sah ich überhaupt nicht ein, warum man einem aufgeregten Menschen Psychopharmaka geben sollte, um ihn zu beruhigen, oder einem traurigen Menschen welche, um seine Stimmung wieder zu heben. Ich dachte, wenn man sich nur genügend Zeit mit den Menschen läßt, sich geduldig ihre Probleme anhört, gemeinsam nach Lösungen sucht, dann müßten doch Aufregung, Traurigkeit und Ängste wieder vergehen, warum also Psychopharmaka?

In der Psychiatrie lernte ich, daß es Krankheiten gibt, die die Menschen traurig, aufgeregt, oder ängstlich machen – ohne daß diese Aufgeregtheit, diese Traurigkeit, diese Ängstlichkeit noch sehr viel mit ihren Problemen zu tun gehabt hätte. Jeder Mensch hat Probleme, auch die Menschen, die sich einer psychiatrischen Behandlung unterziehen. Aber manchmal kann man sich Zeit nehmen und mit den Menschen sprechen so viel man will und es geht ihnen auch für einen Moment ein bißchen besser und sie werden meist dankbar sein dafür. Und doch merkt man auf die Dauer, daß es einem nicht gelungen ist, das Leiden dieser Menschen grundsätzlich zu erleichtern.

Ich hätte es nie geglaubt, aber nach etlichen Jahren täglicher Arbeit und Begegnung mit Menschen, die mir als Patienten anvertraut waren, mußte ich mir eingestehen: es gibt tatsächlich Krankheitszustände, die Traurigkeit oder Aufgeregtheit hervorrufen können, so wie andere Krankheitszustände Kopfweh oder Gelenkentzündung hervorrufen. Und wie wohl kaum jemand auf die Idee käme, die Rheumaerkrankung eines Menschen durch geduldigen Zuspruch dauerhaft heilen zu können, genauso benötigen Menschen, die in dieser Weise krankhaft traurig oder aufgeregt sind, Arzneimittel, die ihnen helfen, ihre Krankheit zu lindern oder sogar zu heilen. Doch immer noch hatte ich den Eindruck, daß in der Klinik häufig zu früh zu Psychopharmaka gegriffen wurde. Wir Ärzte hatten dann vielleicht noch zu wenig verstanden, daß diese Traurigkeit zum Beispiel eben doch etwas mit der fortdauernd schwierigen Ehesituation der Patientin zu tun hatte und nicht einfach nur krankhaft war. Es ist im Einzelfall oft schwierig, die Traurigkeit aufgrund ungelöster Probleme zu unterscheiden von der Traurigkeit aufgrund einer Erkrankung, die eben traurig macht.

Aber mir wurde im Laufe der Jahre klar, daß es Krankheitszustände gibt, die psychische Symptome hervorrufen, aber eigentlich Körperkrankheiten sind und dann auch wie Körperkrankheiten mit Arzneimitteln behandelt werden müssen. Wie gesagt, ich hätte es nie geglaubt, wenn ich es nicht in der täglichen Arbeit mit meinen Patienten selber so erfahren hätte. Wieder Jahre später, als ich mich intensiver in die Homöopathie vertiefte, las ich bei Hahnemann die folgenden Sätze:

„Fast alle sogenannten Geistes- und Gemüths-Krankheiten sind nichts anderes als Körperkrankheiten, bei denen das, jeder eigenthümliche Symptom der Geistes- und Gemüths-Verstimmung, sich unter Verminderung der Körper-Symptome (schneller oder langsamer) erhöhet und sich endlich bis zur auffallendsten Einseitigkeit, fast wie ein Local-Übel in die unsichtbar feinen Geistes- oder Gemüths-Organe versetzt“. (? 215 Organon)

Auch der geniale Beobachter Hahnemann hatte bei seinen Patienten festgestellt, daß jede Erkrankung mehr oder weniger deutliche Veränderungen der psychischen Befindlichkeit mit sich bringt – mit anderen Worten: Geistes- und Gemütssymptome hervorruft. Die Geistes- und Gemütskrankheiten verstand er nun wie Körperkrankheiten, nur daß das Schwergewicht der Symptomatik ganz im Geistes- und Gemütsbereich liegt. So entsteht der Anschein eines „Local-Übels“, das heißt, eine Krankheit, die nicht den gesamten Menschen betrifft, sondern scheinbar nur einen kleinen Teil des Menschen, wie etwa ein gebrochener Finger oder ähnliches.

Aber noch hatte ich keine Ahnung von Homöopathie, noch war ich Assistenzarzt in der Psychiatrischen Klinik und sah, daß es manche Patienten gibt, die Arzneimittel brauchen, um die Chance zur Gesundung zu bekommen. Mein Dilemma als begeisterter Psychotherapeut war einerseits deutlich die Grenzen meiner Kunst und andererseits nicht minder deutlich die Grenzen der Psychopharmaca zu sehen. Diese Psychopharmaka konnten manchmal kleine Wunder vollbringen, wenn beispielsweise ein von seinen Ängsten nahezu zu Tode gequälter Mensch wenige Stunden später leidlich ruhig schlief, wieder Essen zu sich nehmen oder wieder vernünftig reden konnte.

Aber da waren eben auch Patienten, die mit zunehmender Genesung mehr und mehr unter den „Nebenwirkungen“ litten: quälende Bewegungsunruhe, vermehrter Speichelfluß, Steifigkeit aller Glieder. Kaum entlassen, setzten viele Patienten die ganzen Mittel ab. Und oft waren diese Patienten wenig später wieder in dem bedauernswert schwerkranken Zustand, in dem man sie kurz zuvor in der Klinik aufgenommen hatte. Die Statistik schien nicht zu lügen, die besagte, daß man einem psychisch kranken Menschen noch bis zu zwei Jahre nach seiner akuten Erkrankung unter eine dauernde Psychopharmakatherapie zu setzen habe, um das Risiko eines Rückfalles zu reduzieren. Doch viele Patienten riskierten lieber einen Rückfall, um den „Nebenwirkungen“ der Psychopharmaka zu entgehen.

Und ich konnte diese Menschen auch verstehen. Ich sah ja, wie schlecht manche Menschen die Psychopharmaka vertrugen. Wie sie gedämpft wirkten in all ihren Lebensäußerungen, wie die Leibesfülle zunahm, teils weil es so mühsam war, sich zu Aktivitäten aufzuraffen, teils weil die Psychopharmaka den Appetit so steigerten, daß es manchen Patienten schwer fiel, nicht immer mehr und noch mehr zu essen. Wie in – zum Glück seltenen – Fällen, sogenannte „Spätdyskinesien“ die Gesichter zu fratzenhaften Grimassen entstellten. Gab es einen Ausweg aus diesem Dilemma?

Immer schon war mir die Homöopathie sympathisch gewesen. Mir gefiel der Gedanke, Arzneimittel nicht aus dem Reagenzglas zu gewinnen, sondern mit den Substanzen zu heilen, die einfach in der Natur vorgefunden werden können. Viel mehr wußte ich damals nicht von der Homöopathie, als ich meinen Freund Klaus Hock um einen guten Tip bat, wo ich die Homöopathie erlernen könnte. Ich stellte mir vor, noch ein Jahr in einer entsprechenden Klinik zuzubringen, wo ich die Homöopathie würde lernen können. Dann, sozusagen am Ende meiner Wanderjahre, würde ich mich als Psychotherapeut und Homöopath niederlassen.

Und Klaus gab mir einen guten Tip: den dreimonatigen Intensivkurs in Homöopathie in Augsburg. Drei Monate täglich sechs bis acht Stunden, noch so manches Wochenende, die besten Homöopathen im deutschsprachigen Raum, es war wirklich intensiv. Homöopathie, betonten die Vortragenden im Intensivkurs immer wieder, bedeutet lebenslanges Studium. Ich begriff, daß ich mehr als „ein Jahr in einer Klinik“ brauchte, um die Homöopathie zu erlernen. Ich hatte Glück: der Kursleiter wurde auf mich aufmerksam und bot mir an, mich unter seiner persönlichen Aufsicht an einem kleinem homöopathischen Ausbildungsinstitut, dem August-Weihe-Institut in Detmold, weiter in der Homöopathie vertiefen zu können. Und ich hatte wieder Glück, als mir einige Jahre später mein Freund Klaus anbot, mit ihm gemeinsam in einem homöopathisch-therapeutischen Praxiszentrum in München zu arbeiten.

Ist die Homöopathie wirklich ein Ausweg aus dem Dilemma, psychisch schwer erkrankten Menschen helfen zu wollen, ohne gezwungen zu sein, sie immer wieder zu überreden, schwer wirksame Psychopharmaka einzunehmen, die manche von ihnen nur schlecht vertragen?
Ich glaube, wenn wir ganz ehrlich sind, wir wissen es nicht. Sicher kann die Homöopathie bei manchen Menschen kleine Wunder vollbringen, sicher gibt es immer wieder Einzelfälle, die wirklich erstaunlich sind. Oft erleben wir, daß Menschen schon eine ganze Odyssee von Ärzten hinter sich haben, bevor sie zu uns kommen. Immer wieder gelingt es uns in einem, häufig sich über mehrere Jahre erstreckenden Prozeß, diesen Menschen dank der Homöopathie wirklich zu helfen. Aber immer wieder gibt es natürlich auch die Menschen, die nach einigen Terminen nicht wieder kommen – weil es ihnen gut geht oder weil sie Genesung bei einer anderen Methode gesucht haben? Und immer wieder gibt es auch Menschen, die trotz vermeintlich guter homöopathischer Behandlung erneut erkranken.

Die Homöopathie ist eine schwierige Geliebte, ich bin sicher, es wird kaum einen Homöopathen geben, der nicht schon einmal so ähnlich gedacht hat. Nach der Theorie ist alles ganze einfach – für jedes Leiden gibt es die passende Arznei. Welche Arznei für welches Leiden die richtige ist, wird durch die Symptome angezeigt. Nur: zu Hahnemanns Zeiten, da waren es so etwa 140 Arzneien, die im jeweiligen Krankheitsfall unterschieden werden mußten. Inzwischen sind es Dank des forscherischen Fleißes der Homöopathen über 1.500 Mittel, die auseinandergehalten werden wollen, und das oft nur anhand so kleiner Hinweise, wie, ob der Schmerz nun mehr ein drückender oder ein ziehender ist.

So kommt es, daß trotz allen fleißigen Studiums, trotz aller moderner Hilfen und Computertechnik, es doch immer wieder zu Situationen kommt, wo man einfach zwei, drei Mittel geben muß, bevor eine deutlich merkliche Wende im Krankheitsprozeß erreicht werden kann. Die Homöopathie regt die Selbstheilungskräfte des Körpers an, und genau in dem Tempo, wie der Körper sich selbst zu heilen vermag, schreitet der Gesundungsprozeß voran – bei jahrelang bestehenden chronischen Erkrankungen ist auch eine ganze Menge Geduld notwendig, um sich auf diesen homöopathisch geleiteten Selbstheilungsprozeß einzulassen. Deswegen bin ich immer ein bißchen hilflos, wenn mir jemand erzählt, „die Homöopathie hilft bei mir nicht, ich war schon einmal bei einem Homöopathen, und das hat gar nichts gebracht“.

Ein Patient muß Geduld und die Bereitschaft zur aufmerksamen Beobachtung mitbringen, ein Homöopath braucht Einfühlungsvermögen, Geduld und lebenslange Lernbereitschaft. Gibt es wirklich Patienten, die erwarten, mit der Gabe eines Kügelchens oder einiger Tropfen würde sich schlagartig ihr ganzes Leben verändern?

Die Homöopathie ist eine schwierige Geliebte, aber immer wieder beschert sie Patienten und Arzt auch diese kleinen Wunder, wenn nach jahrelangen wiederholten Antibiotica-Gaben eine Akuterkrankung auch genauso gut mit homöopathischen Arzneimitteln ausgeheilt werden kann, oder jahrelange ständige Cortisonbehandlung überflüssig wird – unsere Patienten haben einige dieser kleinen Wunder hier berichtet.

Ist es möglich, mit Homöopathie Psychopharmaka überflüssig zu machen?

In absehbarer Zeit wohl nie ganz. Jeder Homöopath – mag er noch so sehr auf die „Schulmedizin“ schimpfen – hat schon Situationen erlebt, in denen er froh war, daß es Intensivstationen, Cortison und Antibiotica gibt. Vor allem bei akuten Zuständen wird es immer Situationen geben, wo Psychopharmaka unumgänglich sind.

Aber je mehr wir die Möglichkeit bekommen, auch schwer psychisch erkrankten Menschen mit Hilfe der Homöopathie helfen zu können, um so mehr werden unsere Kenntnisse und Erfahrungen in diesem Bereich wachsen und um so eher werden wir in einigen Jahren vielleicht einmal sagen können: „Wir konnten den allermeisten Menschen, die zu uns kamen, um eine schwere psychische Erkrankung zu behandeln, mit den Mitteln der Homöopathie so weit helfen, daß sie nun nicht mehr, oder nur noch in seltenen Ausnahmefällen, auf Psychopharmaka angewiesen sind.“

Gräfelfing im Januar 2000
(gekürzt und redigiert November 2003)